Ende November 2019 publizierte eine Gruppe von Berner Forschenden in JAMA Neurology (Journal of the American Medical Association) einen Beitrag unter dem Titel «Episodic Visual Snow Associated With Migraine Attacks». Der Beitrag hat das Potenzial, das bisherige Wissen um die Erkrankung VSS auf den Kopf zu stellen.
Visual-Snow-Syndrom (VSS) – ein bleibendes Schneegestöber vor Augen
Personen mit dem VSS haben eine dauerhaft veränderte visuelle Wahrnehmung. Das primäre Symptom ist Visual Snow (VS), also eine Sehstörung, die mit dem Rauschen eines schlecht eingestellten analogen Fernsehers oder der Sicht in einem Schneegestöber verglichen wird. Die Störung ist konstant und bei geöffneten und geschlossenen Augen wahrnehmbar. Normalerweise sind die flackernden Punkte schwarz oder weiss, seltener farbig. Man spricht vom Visual-Snow-Syndrom (VSS), wenn zusätzliche Sehstörungen vorliegen, insbesondere Palinopsie (d. h. Nachbilder, verwischte Bewegung), Photophobie (Lichtempfindlichkeit) und Nyktalopie (schlechte Nachtsicht). Die Sehstörung betrifft das gesamte Gesichtsfeld und betrifft Personen beiderlei Geschlechts.
Das Visual-Snow-Syndrom wird erst seit wenigen Jahren in der Fachwelt intensiver diskutiert. Grundlage sind die ausführlichen klinischen Beschreibungen des Krankheitsbildes durch Schankin und Kollegen 2013 und 2014. (doi: 10.1186/1129-2377-14-s1-p132 und doi: 10.1093/brain/awu050) Zunächst galt die Sehstörung als äusserst selten, bis mit zunehmender Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Ärzteschaft nach und nach immer mehr Fälle zutage traten. Da Patienten mit VSS extrem häufig auch zusätzlich unter Migräne leiden, war VSS lange als anhaltende Migräneaura (fehl-)interpretiert worden. Bei unauffälligen Untersuchungen erhalten Patienten leider oftmals auch die Diagnose einer psychischen Störung. Im Jahr 2014 publizierten Schankin et al. einen ausführlicheren Report, der mittels Bildgebung nachweisen konnte, dass VSS nicht eingebildet ist und möglicherweise in dem Bereich der Hirnrinde entsteht, der für eine normale Sehverarbeitung zuständig ist (Schankin et al. 2014, doi: 10.1111/head.12378).
Auch Jahre nach den ersten Publikationen ist das Wissen um die pathophysiologischen Ursachen von VSS und den Zusammenhang mit Migräne sehr begrenzt. Wirklich vielversprechende Therapieansätze fehlen.
Die überraschende Entdeckung der Berner Neurologen
Im November 2019 hat nun ein Team von Berner Neurologen um PD Schankin, Prof. Bassetti, Prof. Fischer und Dr. Hodak einen Diskussionsbeitrag in JAMA Neurology publiziert (doi: 10.1001/jamaneurol. 2019.4050.), der drei Fälle von episodischem und eng an Migräneattacken gebundenem Visual Snow beschreibt.
Die Patienten hatten die Klinik ursprünglich wegen Kopfschmerzen aufgesucht. Alle drei Betroffenen beschrieben Symptome von VS ausschliesslich zu Beginn oder während einer Migräneattacke. Ihre Beschreibung passte zur Erscheinungsform von VS, mit dem prägnanten Unterschied, dass die Attacken nicht von Dauer waren und ausschliesslich zusammen mit Migräneattacken auftraten. In der Studie, die zur Definition von VSS durchgeführt worden war (doi: 10.1111/head.12378), waren grundsätzlich Fälle mit kontinuierlichem VSS eingeschlossen worden. Dass nun VS episodisch mit Migräneattacken auftritt, erweitert das Verständnis der Beziehung zwischen Migräne und VSS: offenbar liegt dem VS ein ähnlicher Mechanismus zugrunde wie Migräneattacken. Die Berner Gruppe schlägt vor, zwei Formen von VS zu unterscheiden, den Bleibenden (kontinuierlicher VS als Teil von VSS) und den Temporären (episodischer VS). Letzterer scheint Teil von Migräneattacken zu sein. Um unser Verständnis von der extrem behindernden Erkrankung VSS zu verbessern, sollten daher gemeinsame Mechanismen von Migräne und Visual Snow näher untersucht werden.
Die Universitätsklinik für Neurologie – Tradition der Innovation
Die Universitätsklinik für Neurologie setzt unter der Leitung ihres Direktors und Chefarztes Prof. Claudio Bassetti einen Schwerpunkt in Innovation und Forschung. Im Rahmen des Schlaf-Wach-Epilepsie-Zentrums (SWEZ) und neu mit der Forschungseinheit NeuroTec werden gezielt Forschungstätigkeiten im universitären und klinischen Bereich vorangetrieben. Prof. Bassetti kommentiert die Entdeckung des episodischen VS wie folgt: «Die Erforschung neuer Krankheitsbilder in der Neurologie ist eine interdisziplinäre und komplexe Herausforderung. Im Fall des VSS haben wir ein recht genau beschriebenes Krankheitsbild. Über dessen Ursachen und die physiologischen Zusammenhänge tappen wir aber noch im Dunkeln. Es ist unser Ansporn, gemeinsam mit führenden Forschungsteams weltweit das Verständnis dieses schwerwiegenden Krankheitsbildes zu verbessern, um baldmöglichst erste Ansätze zu erfolgsversprechenden Therapien in den Händen zu haben».
Publikationen:
- Hodak J, Fischer U, Bassetti CLA, Schankin C. (2019): Episodic Visual Snow Associated With Migraine Attacks. JAMA Neurol. 2019 Nov 25, doi: 10.1001/jamaneurol.2019.4050.
- Schankin, CJ, Maniyar, FH, Digre, KB, Goadsby, PJ (2014): ‘Visual snow’ – a disorder distinct from persistent migraine aura. In: Brain doi:10.1093/brain/awu050
- CJ Schankin, F. Maniyar, J. Hoffmann, D. Chou, PJ Goadsby (2013): Clinical characterization of „visual snow“ (Positive Persistent Visual Disturbance). In: The Journal of Headache and Pain. Band 14, Nr. 1, 21. Februar 2013, P132, doi: 10.1186/1129-2377-14-s1-p132.
- Christoph J. Schankin, Farooq H. Maniyar, Till Sprenger, Denise E. Chou, Michael Eller, Peter J. Goadsby 2014: The Relation Between Migraine, Typical Migraine Aura and “Visual Snow”. Headache, American Headache Society; doi: 10.1111/head.12378
Experte:
- PD Dr. med. Christoph Schankin, Oberarzt, Leitung Kopfschmerz-Sprechstunde, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital, Universitätsspital Bern.
Kontakt:
- Insel Gruppe AG, Kommunikation: +41 31 632 79 25, kommunikation@insel.ch