Lebensqualität trotz Endometrioseschmerzen – ist das möglich?

Samstag, 6. März 2021

Im Interview gibt Dr. med. Ilca Wilhelm Einblicke in die umfassende Schmerztherapie nach dem «Bio-Psycho-sozialen-Modell». Dr. Wilhelm ist Spitalfachärztin am Schmerzzentrum Inselspital.

Frau Dr. Wilhelm, Sie behandeln im Schmerzzentrum Patientinnen mit Endometriose. Können Sie genauer erklären, unter welchen Schmerzen die Frauen leiden? 

Initial bestehen meist abdominelle Schmerzen, also Schmerzen im Unterbauch, die vor allem im Rahmen der Menstruation auftreten. Diese können sich aber auf andere Lokalisationen ausbreiten, z.B. bei einer Infiltration der Endometrioseherde in Nerven und Bandstrukturen. Die Schmerzen können dann auch unabhängig von der Menstruation auftreten und zu chronischen Dauerschmerzen werden. Die Stärke der Schmerzen hängt nicht mit dem Ausmass der Endometriose zusammen und ist für jede Patientin individuell.

Sie sagen, der Schmerz sei sehr individuell. Ist das einer der Gründe, weshalb eine Endometriose oft lange nicht erkannt wird?

Ja, leider haben Endometriosepatientinnen häufig einen langen Leidensweg hinter sich, bis die Erkrankung erkannt und richtig therapiert wird. «Schmerzen bei der Menstruation sind doch normal, stell dich nicht so an, sei keine Memme…», dies und vieles mehr müssen sich die Patienten häufig anhören. Für viele Frauen ist die Diagnosestellung deshalb eine grosse Erleichterung. Endlich hat der Schmerz einen Namen, er ist nicht eingebildet und wird ernst genommen. Ausserdem ist die Menstruation weiterhin ein Frauenthema, über das man ungern in der Öffentlichkeit spricht.

Was sind die Herausforderungen der Schmerztherapie?

Zum einen ist die Schmerzursache unterschiedlich. Bei der Endometriose können Schmerzen aufgrund der Periodenblutung in der Gebärmutter entstehen. Es können aber auch Entzündungsschmerzen und Schmerzen durch Infiltrationen in andere Gewebe sein. Jede Schmerzart benötigt ein eigenes Therapiekonzept.
Zum anderen ist Schmerz eine komplexe Sinnesempfindung, welche durch individuelle biologische, emotionale, soziokulturelle und familiäre Erfahrungen beeinflusst wird. Diese individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse der Patientin müssen in der Therapie berücksichtigt werden. Wo bestehen Einschränkungen durch die Schmerzen? Was will und kann die Patientin selber für die Therapie leisten? Häufig bestehen Begleiterscheinungen wie Müdigkeit, Schlafprobleme und verändertes Essverhalten.

Warum ist die Schmerzbehandlung so wichtig?

Schmerzen bedeuten Verlust von Lebensqualität, Inaktivität, Beeinflussung der Psyche und des sozialen Lebens. Gerade bei den häufig sehr jungen Patientinnen sollten diese Teufelskreise so schnell und effizient wie möglich durchbrochen werden, um Chronifizierungen zu vermeiden.

Was gibt es für Möglichkeiten der Schmerzbehandlung?

Vor allem konservative Therapieverfahren ohne Nebenwirkungen sollten im Mittelpunkt stehen. Wir führen eine Schmerztherapie basierend auf dem Bio-Psycho-Sozialen Schmerztherapiemodell durch. Dieser ganzheitliche Behandlungsansatz berücksichtigt und adressiert körperliche, seelische und soziale Bedürfnisse der Patientin.
Beim Bio-Psycho-Soziale Schmerztherapiemodelle arbeiten Fachspezialistinnen und –spezialisten in multidisziplinären Teams sehr eng zusammen. Dazu gehören Ärztinnen verschiedener Fachrichtungen, Physiotherapeutinnen, Schmerzpsychologinnen und Pflegefachpersonen mit Spezialausbildungen.

Können Sie uns Beispiele für physische Behandlungsmöglichkeiten geben?

Zu den körperorientierten Behandlungen gehören z.B Transcutane-elektrische Nervenstimulation (TENS), Beckenbodenphysiotherapie, körperliche Ausdaueraktivitäten, Massagen, Yoga, Wärmetherapie, Ernährungsberatung, Akupressur und vieles mehr.

Warum braucht es eine psychologische Begleitung?

Der körperliche Schmerz beeinträchtigt die Seele und die Stimmung der Patientin. Schmerzen über eine lange Zeit machen Dünnhäutig und Angst. Auch diesen Gefühlen müssen wir einen Raum geben und sie ernst nehmen. Wenn die Patientinnen durch eine Psychologin mitbetreut werden, heisst das nicht, dass sie sich den Schmerz einbilden oder psychisch krank sind. Im Gegenteil, wir möchten die starke Psyche unserer Patientinnen zur Schmerztherapie im Rahmen eines mentalen Trainings nutzen. Bei den mentalen Behandlungsansätzen arbeiten wir mit Ablenkung und Imagination, Entspannung z.B durch progressive Muskelentspannung, Atemtraining oder Hypnose.

Welche sozialen Aspekte spielen eine Rolle?

Zum Beispiel ist wichtig zu klären, inwieweit die Patientin noch arbeiten kann. Weiter wollen wir vermeiden, dass sich die Patientin aus dem Sozialleben zurückzieht, nicht mehr aus dem Haus geht. Es ist auch wichtig, dass die Patientin offen mit ihrem Partner über die Erkrankung und die Folgen sprechen kann. Denn ein weiteres Problem der Endometriose ist die Infertilität.

Wie ist es mit einer medikamentösen Schmerztherapie?

Analgetika d.h. Medikamente, die die Schmerzen unterdrücken, sollten so wenig wie möglich aber so viel wie nötig eingesetzt werden. Es ist sehr wichtig, dass wir die Patientinnen sehr gut informieren und begleiten um Nebenwirkungen oder - im Fall von Opioiden - Abhängigkeiten zu vermeiden. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, die Einnahme rechtzeitig zu beginnen, nicht erst, wenn die Schmerzen unerträglich sind. Ab einem bestimmten Punkt schaukeln sich Schmerzen hoch und sind nur mit höheren Dosierungen zu beherrschen. Ein Medikamenten-Tagebuch, das die Patientin führt, ist für die Patientin und für uns ein sehr wirksames Mittel für ein gutes Schmerz-Management.

Sie haben von Chronifizierung von Schmerzen gesprochen. Was genau meinen Sie damit?

Wenn Schmerzen über lange Zeit bestehen oder intermittierend immer wieder auftreten, spricht man von chronischen Schmerzen. Die physiologische Schmerzwahrnehmung und Schmerzleitung in der Peripherie und im Gehirn verändern sich. Bei chronischen Schmerzen liegt häufig eine allgemeine Hypersensibilisierung und eine abgeschwächte körpereigene Schmerzhemmung vor. Die Patienten empfinden Schmerzen stärker, die Schmerzgebiete vergrössern sich diffus und schon kleinste Berührungen können als Schmerzen empfunden werden. Die Therapie von chronischen Schmerzen ist sehr viel schwieriger und muss multimodal angegangen werden.

Was bietet das Schmerzzentrum der Insel für Frauen mit Endometriose an?

Die Patienten können sowohl im stationären Rahmen z.B. nach Operationen oder auch ambulant betreut werden. Ambulant werden die Patientinnen bei der ersten Konsultation durch eine Ärztin und eine auf Schmerztherapie spezialisierte Psychologin behandelt. Individuell wird ein gemeinsamer Behandlungsplan erstellt und verschiedene Therapieoptionen vorgestellt. Wie viele weitere Konsultationen bei der Ärztin oder Psychologin notwendig sind, wird gemeinsam mit der Patientin entschieden. Zusätzlich bieten wir eine Informationstherapie in der Gruppe für Patientin mit chronischen Schmerzen an (3 Tagen für 2 Stunden). Auch Schmerzedukation, zu wissen was chronische Schmerzen sind und wie sie beeinflusst werden können, ist ein wichtiger Therapiebaustein.

Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Endometriosezentrum?

Das Endometriosezentrum weist uns die Patientin zu. Es findet ein sehr enger und konstruktiver Austausch und je nach Notwendigkeit eine individuelle Fallbesprechung statt. In der Schmerzsprechstunde im Kinderspital wird bei Jugendlichen teilweise schon frühzeitig die Problematik der Endometriose erkannt und kann so in Kooperation mit dem Endometriosezentrum rechtzeitig behandelt werden.

Wie kann ich mich für eine Konsultation am Schmerzzentrum anmelden?
Für eine Konsultation im Schmerzzentrum braucht es eine Zuweisung durch einen Arzt, dies kann der Hausarzt, die Gynäkologin oder eben das Endometriosezentrum sein.
http://www.schmerzzentrum.insel.ch/de/aerzte-und-zuweiser/zuweisung/